Gehirn
Buchbesprechung: "Das Gehirn - Ein Unfall der Natur"
Rezension
Stefan Taborek, 18.07.2010
David J. Linden, Professor für Neurowissenschaft, hat 2007 das Buch "The Accidental Mind"
herausgebracht, indem er den aktuellen Stand des Wissens über die Funktion und Aufbau des
Gehirns einbringt und dabei zu dem Schluss kommt, dass unser Gehirn, so wörtlich, "im
Grunde genommen ein Mäusegehirn mit noch mehr obenauf gestapelten Dreingaben" sei. In
der deutschen Ausgabe lautet der Titel etwas polemischer: "Das Gehirn - Ein Unfall der
Natur" - die 2. Auflage erschien im Februar 2010.
Interessant ist seine Motivation, das Buch geschrieben zu haben. Er stellt im Vorwort fest, dass
es Bücher über das Gehirn gibt, die "sind so trocken, dass Sie spüren können, wie Ihre Seele
Ihren Körper verlässt, bevor Sie auch nur die erste Seite zu Ende gelesen haben". Und sofort
nach dieser Feststellung kommt er zu seinem eigentlichen Motiv: "Schlimmer noch ist, dass
viele Bücher über das Gehirn und noch mehr Wissenschaftssendungen im Fernsehen ein
fundamentales Missverständnis über neuronale Funktionen zementieren. Sie stellen das Gehirn
als ein wunderbar konstruiertes, optimales Instrument dar, den absoluten Gipfel der
Designkunst." Damit diese Vorstellung über das Gehirn in der Öffentlichkeit endlich
verschwindet, hat er sein Buch geschrieben. Er schreibt dann ein paar Zeilen später: "Das
Gehirn ist keinesfalls ein eleganter Entwurf, vielmehr ist es ein zusammengeschustertes
Durcheinander...". Viele Leser werden davon ausgehen, dass dieser Fachmann es wohl wissen
sollte.
Beim Lesen des Buches erkennt man sehr schnell, es handelt sich weniger um ein gutes Buch
mit Faktenwissen über Aufbau und Struktur des Gehirns, sondern eher um eine Kampfschrift
gegen die ID-Wissenschaft. Jedes Kapitel enthält zahlreiche Aussagen über die angeblich
absolut mangelhafte Qualität des Gehirns, wobei der aufmerksame Leser bald bemerkt, dass
der Schreiber innerlich sehr gespalten ist, denn in den selben Kapiteln finden sich ebenso viele
Aussagen über die unglaublichen Fähigkeiten des Gehirns. Die zwei Seelen in der Brust des
Schreibers wechseln sich abrupt ab und man wird dauernd von großer Hochachtung zu
absoluter Geringschätzung des Gehirns getrieben.
Da findet man sogar ein ganzes Kapitel mit der Überschrift "Das keineswegs intelligente Design
des Gehirns". Dieses Kapitel ist ausschließlich der Auseinandersetzung mit
fundamentalistischen Christen und Kreationisten gewidmet. Und wie in solchen Texten üblich,
wird die ID-Wissenschaft so nebenbei mit Kreationismus gleichgesetzt. Da finden sich abstruse
Behauptungen, die den ID-Wissenschaftlern in den Mund gelegt werden - wie folgende:
Tatsächlich achten die Anhänger des intelligent Designs peinlich darauf, Gott oder Religion gar
nicht zu erwähnen, wenn sie sich an die Öffentlichkeit im Allgemeinen wenden. Vielmehr
behaupten sie, Lebewesen seien einfach zu komplex und zu schlau, um durch zufällige
Mutationen und Selektionen entstanden zu sein." Es folgt ein Fehler nach dem anderen in
diesem Kapitel.
Auf der Seite S.273 befasst er sich noch mal mit ID und glaubt zu wissen, dass ID-
Wissenschaftler eine ganz hinterhältige Methode benutzen, um gegen die Evolutions-Theorie
Darwins zu kämpfen. Er schreibt: "Die öffentliche Seite des intelligent Designs ist mit viel
Geschick so gestaltet worden, dass sie wie eine legitime wissenschaftliche Theorie ohne
Bindung an eine bestimmte religiöse Agenda erscheint. Das gibt Politikern und Vertretern von
Schulkommissionen politische Deckung, die sich so einen Anschein von Fairness geben und
sagen können: 'Lassen Sie uns unseren Schülern doch beide Seiten dieser faszinierenden
wissenschaftlichen Debatte vorstellen.'"
Nein, die Vertreter der Evolutions-Theorie Darwins lassen keine wissenschaftliche Debatte zu.
Unsere Schüler in den Schulen dürfen nach Möglichkeit nicht den kleinsten Wind eines
wissenschaftlichen Zweifels am Darwinismus zu spüren bekommen. Bezeichnenderweise
vergleicht der Autor eine allseitige Informationsmöglichkeit mit Fairness. Im Gegensatz dazu
wird dem Leser auf S. 274 noch einiges aufgebürdet. Da nutzt der Autor (wie das in anderen
Darwinistischen Schriften bereits geschehen ist) den Fahrtwind der weltweiten Entrüstung
gegen einen verflossenen amerikanischen Präsidenten und leitet diesen geschickt so um, dass
er gleich das ganze ID-Gebäude erschüttern soll. Das ist jedoch primitiver Populismus und wird
hoffentlich an allen Lesern vorbeiziehen, die selbst denken wollen.
Gleich danach widmet er sich dem wesentlichen ID-Argument der "nicht reduzierbaren
Komplexität". Er gibt zu, die Argumente der Spezialisten nicht beurteilen zu können (".. ich
bin weder das eine noch das andere), aber er vertraut darauf, dass "sorgfältige
Untersuchungen" gezeigt haben, dass es keine nichtreduzierbare Komplexität gäbe. Danach
folgen einige ins Leere laufende Argumente. Doch das Ziel des Kapitels ist noch nicht ganz
erreicht. Er möchte dem Leser doch deutlich erklären, dass das Gehirn absolut kein Design
verrät. Das kann man am besten, wenn man den Spieß gleich umdreht und behauptet, dass
das Gehirn für den großen Forscher der Gegenwart ein "Albtraum", ein erweitertes
"Mäusegehirn", weiter nichts ist (S.276).
Diese Behauptung wird nun natürlich untersetzt. Aber zunächst nicht mit Fakten, sondern mit
weiteren Glossen. Da kann man auf S. 277 lesen: "Das Gehirn ist wie ein Eishörnchen
aufgebaut, wobei in jedem Stadium unserer Evolution neue Kugeln obendrauf gepackt
wurden." Gleich anschließend kann man lesen: "Noch deutlicher wird die mangelnde Planung
des Gehirn-Designs auf zellulärem Niveau." Diese beiden Sätze stehen tatsächlich unmittelbar
hintereinander. Der Leser sollte demnach den Eiskugel-Vergleich ernstlich als Beweis für
"mangelnde Planung des Gehirn-Designs" betrachten, so wie die nun zu erwartende Enthüllung
über die Unzulänglichkeiten des Designs auf zellulärem Niveau!
Auf der S. 278 wird nun das "mangelhafte Design" auf zellulärem Niveau beschrieben. Als
Beweis für diese Behauptung werden Neurone benutzt. Er behauptet: "Neurone arbeiten
jedoch in fast jeder Hinsicht unzureichend." Ein Grund für die Unzulänglichkeit der Neurone
bestehe darin, dass sie die Signale zu langsam weiterleiten. Die Geschwindigkeit der
Reizleitung schwankt je nach Neuron-Typ zwischen 120 m/sec und 1 m/s. Nun begibt sich der
Autor auf ein fachfremdes Terrain und vergleicht in der Tat diese Signal-Geschwindigkeit mit
der Signal-Geschwindigkeit eines elektrischen Impulses in einem Draht und kommt zu dem
Schluss: "eine Million mal langsamer als ein Kupferkabel". Dieser Vergleich ist eine
wissenschaftliche Selbstaufgabe, ein Trauerspiel, das man lieber nicht hören muss. Doch es
steht geschrieben und so sollte doch eine Erwiderung nicht fehlen.
Ein Axon der Nervenzelle hat eine Länge, die zwischen 1um und 0,9m liegt. Das Signal muss
diese Strecke mit der Geschwindigkeit von ca. 160 Km/h zurücklegen, wobei bestimmte
Neurone die Reize mit etwa 640 Km/h weiterleiten (S.53). In der Praxis bedeutet das für eine
Axon-Distanz von 20cm eine Signal-Verzögerungszeit zwischen 0.1 und 1 Mikrosekunde. Für
die längsten Strecken von ca. 90cm liegt die Reizleitungs-Dauer dann bei 0.5 Mikrosekunden.
Doch warum diese bereits extrem kurzen Signal-Laufzeiten noch kürzer sein sollten, kann man
anhand dieser Zahlen noch nicht wirklich abschätzen, daher soll zunächst der Fall betrachtet
werden, dass unser Gehirn tatsächlich mit winzig dünnen Kupferdrähten verdrahtet wäre. Ehe
wir zum Innenleben der Kupfer-Konstruktion kommen, wollen wir uns die Hals-Wirbelsäule
einer solchen Konstruktion einmal vosrstellen. Dort vereinigen sich nun Millionen winzige,
superisolierte Kupferdrähte, die auf engsten Raum zusammengepresst sind. Die logische Folge
dieser Konstruktion wäre eine Steifheit, die mit einer massiven Kupferstange von 5cm
Durchmesser verglichen werden kann. Das wird sich wohl Herr Linden nicht gerade wünschen.
Doch nehmen wir den von ihm geträumten Fall an, das Bündel mit den Millionen winzigen
Kupferdrähtchen wären tatsächlich so biegsam wie unsere Wirbelsäule, so hätten wir
wahrscheinlich schon bald ein ganz anderes Problem: Wir müssten zu einem Elektroniker
laufen, damit der ein paar gebrochene Drähtchen erneuert! Und diese Prozedur würde uns das
ganze Leben lang begleiten. Wie dankbar können wir Menschen daher sein, dass wir unser
Wunderwerk Gehirn haben!
Das Design des Herrn Linden wäre im Vergleich zu unserem Gehirn auch aus ganz anderen
Gründen eine kostspielige Katastrophe. Hätten wir Menschen die Fähigkeiten, den Design-
Vorschlag des Herrn Linden zu realisieren, so erhielten wir ein Gehirn mit mindestens dem
dreifachen Gewicht (dabei ist das Gewicht für die Isolierungen und Abschirmungen noch nicht
berücksichtigt). Nach dem Einschalten der elektrischen Strom-Versorgung für das Linden-
Gehirn würden wir feststellen, dass es einen wesentlich höheren Stromverbrauch hätte, denn
wenn man für nur 10% der 500 Billionen Signal-Übergänge (an Axone und Dendriten) nur je
0,1 Mikrowatt an Leistung berechnet, so wären das 5 KW - etwa das 500 fache der Leistung,
die Homo-Sapiens für sein Gehirn benötigt. (Die elektrische Leistung, die über eine Kupfer-
Signal-Leitung übertragen wird, kann nicht beliebig minimiert werden, da bei minimalen
Strömen zunehmend mehr Stör-Impulse wirksam werden.) Und das ist, was Herr Linden
scheinbar gar nicht bedacht hat, nämlich die Tatsache, dass sein Kupfer-Gehirn nur in einem
elektrostatisch absolut abgeschirmten Schutzraum (wenn überhaupt) funktionieren würde -
und falls uns der Nachbau des Gehirns mit Kupferleitungen wirklich gelungen wäre, so würden
wir auch noch feststellen, dass die von Herrn Linden erwartete millionenfache Steigerung der
Arbeitsgeschwindigkeit nur ein Traum war.
Die einzelnen Gründe für das Versagen des Designs von Herrn Linden sind: Kupfer hat ein
wesentlich höheres spezifisches Gewicht als Nervengewebe, was zu einer enormen
Gewichtssteigerung führen würde; - werden nur die elektrischen Leitungen durch Kupfer
ersetzt, würde das einen erheblichen elektronischen Aufwand nach sich ziehen, die Signale an
den Übergängen zu konvertieren; - die erforderlichen Konverter-Schaltungen benötigen
zusätzlichen Strom; das gesamte Gehirn müsste gegen elektromagnetische Strahlung des
gesamten denkbaren Frequenzspektrums abgeschirmt werden, was bisher noch in keiner
einzigen elektronischen Schaltung verwirklicht werden konnte! Herr Linden würde somit das
Gehirn zu einer Antenne für alle Rundfunk- und Fernseh-Signale und viele anderen Signale
machen, wodurch dann vielleicht doch wenigstens ein Vorteil für den Homo-Cuprium
herauskäme: er brauchte keine zusätzlichen Geräte mehr!
Die von Linden erwartete Steigerung der Arbeitsgeschwindigkeit wäre vor allem aus zwei
Gründen unerreichbar. Der erste Grund besteht darin, dass bei der von ihm angegebenen
Signal-Geschwindigkeit nur dann die entsprechenden Taktflanken realisiert werden können,
wenn die Kupfer-Leitungen außerordentlich gut isoliert würden, damit nur winzige Kapazitäten
(kleiner als 0,1pF) zwischen allen Leitungen auftreten. Die Realisierung einer solchen
Kupferdraht-Schaltung mit teilweise 1m langen Drähten und mit 50 Billionen Übergängen
(wenn man wieder nur 10% ansetzt) würde (wie Elektroniker am ehesten erkennen)
vermutlich auch bei sehr dünnen Kupferleitungen einen ganzen Wohnhraum füllen. Der zweite
Grund dafür, dass so eine Kupferdraht-Schaltung langsamer arbeitet, als von Linden erwartet,
besteht simpel darin, dass Billionen Signal-Konvertierungen an den Sensoren und Aktoren
erfolgen müssten, die alle zusätzliche Zeit benötigen.
Aus diesem Grunde darf man das Buch von David J. Linden für Techniker und Elektroniker
getrost als einen humorvollen Beitrag auf etwas höherem Niveau (oder doch als schwarzen
Humor?) empfehlen. Was aber werden die vielen Leser aus diesem Buch machen, die diese
Fehler und Irrtümer des Autors nicht erkennen, weil sie Laien sind? Das Ziel des Buches wird
erreicht, wenn der Leser schließlich erkennt: Das, was ich bisher als das größte Wunderwerk
der "Natur" gehalten habe, das Gehirn, ist in der Tat nur ein evolutionärer Schrotthaufen, der
aber seltsamer Weise funktioniert.
Zurück zur S.278, dort fährt der Autor fort mit seiner Fehde gegen die ID-Wissenschaftler. Er
zitiert einen führenden Vertreter dieser Wissenschaft, Michael Behe, mit einem so
nichtssagenden Zitat, dass der Leser sich nur fragen muss, was will der Behe damit sagen? Die
anschließende Formulierung mit den Worten von Herrn Linden klingt dann so: "Um es anders
zu sagen: 'Wenn ein biologisches System auf den ersten Blick cool aussieht, dann muss es das
Resultat eines intelligenten Designs sein. Wenn biologische Systeme bei näherem Hinsehen
ziemlich zusammengeschustert aussehen, dann ist noch immer intelligentes Design mit einem
etwas schrägen Sinn für Humor." Dieser Gedankenkonstruktion muss man zu aller erst wohl
entgegenhalten, dass der Wissenschaftler Michael Behe bei "näherem Hinsehen" ganz sicher
nicht auf solche abstrusen Ideen käme wie Herr Linden, der das menschliche Gehirn mit
Kupfer-Kabeln aufmotzen will, weil es angeblich zu langsam und "zusammengeschustert" ist.
Auf S.281 folgt dann eine tabellarische Zusammenfassung der drei Hauptfaktoren, die "die
Evolution des Gehirns eingeschränkt haben" sollen. Erstens: "Im Lauf der Evolution ist das
Gehirn niemals von Grund auf neu konstruiert worden". Zweitens: "Das Gehirn ist kaum in der
Lage, Kontrollsysteme abzuschalten, selbst wenn diese Systeme in einer bestimmten Situation
kontraproduktiv sind." Drittens: "Neuronen, die Basisprozessoren des Gehirns, sind langsam
und unzuverlässig und haben eine sehr begrenzte Signalbreite." Zu dem dritten Argument
wurden hier bereits einige Ausführungen gemacht, wobei allerdings die behauptete
"Unzuverlässigkeit" bisher noch nicht besprochen wurde. Zu dem Thema der angeblichen
Unzuverlässigkeit folgen später einige Ausführungen.
Zunächst soll die erste Behauptung aufgegriffen werden, die besagt, dass das Gehirn während
der Evolutionsgeschichte niemals von Grund auf neu konstruiert worden ist. Als Ingenieur oder
Elektroniker kann man die damit ausgedrückte Abwertung des Gehirns erst einmal nicht
nachvollziehen, nicht begreifen. Erwartet Herr Linden tatsächlich, dass
informationsverarbeitende Systeme auf beliebige Art und Weise konstruiert werden könnten?
Das menschliche Gehirn ist zwar erst wenig erforscht, wie auch Herr Linden zugibt (dazu
später mehr), doch was wir wissen, verrät eine sehr klare Struktur, die sich kein Elektroniker
zu verbessern wagen würde. Die einzelnen Komponenten, die im Buch auf den Seiten 15 bis 29
besprochen werden, können aus der Sicht von Ingenieuren und Technikern ganz sicher nicht
verbessert werden - jedenfalls nicht gemäß unserem Wissensstand. Schon der leiseste Versuch
würde das größte Team an fähigen Wissenschaftler und Technikern absolut überfordern. Der
Leser darf sich also fragen, warum Komponenten, die sich in niederen biologischen Systemen
hervorragend bewährt haben, nicht als Komponenten eines komplexeren biologischen Systems
für entsprechende Teilaufgaben eingesetzt werden sollten. Eine Neukonstruktion von Grund auf
wäre nur zu erwarten, falls die älteren biologischen Systeme störanfällig oder gar fehlerhaft
waren - das zu beurteilen sollte man jedoch wirklichen Fachleuten überlassen und abwarten,
bis wir Einblick haben, wie das Gehirn wirklich funktioniert. Die Modularität in der Konstruktion
ist ein ID-Signal. Herr Linden möchte es vertuschen und macht so auch hier einen Fehler nach
dem anderen.
Die zweite Behauptung lautete, das Gehirn sei kaum in der Lage, Kontrollsysteme
abzuschalten, selbst wenn diese Systeme in einer bestimmten Situation kontraproduktiv sind.
Auch diese Behauptung wird von Ingenieuren absolut anders bewertet als von Herrn Linden,
der offenbar von System-Konstruktion so gut wie nichts versteht. Kontrollsysteme haben nun
mal per Definition einen übergeordneten Stellenwert in komplexen Systemen. Diese Systeme
werden generell so konstruiert, dass sie unter allen (vorerst) denkbaren Umständen die
Kontrolle behalten. Entwickler verbringen unglaublich viel Zeit damit, bei komplexen Systemen
im Voraus an alle möglichen Konflikte und Komplikationen zu denken und Kontrollsysteme zu
installieren, die in solchen Situationen effektiv wirksam werden. Was bei hochkomplexen
Entwicklungen jedoch fast nie gelingt, ist die vollständige Vorhersage aller Prozess-
Bedingungen und daraus resultierenden Prozess-Sicherungen durch ein Kontrollsystem. Je
komplexer ein System ist, um so abwegiger wäre eine Einzelfall-Lösung für jede denkbare
Situation. Da das im Fall des menschlichen Gehirns einfach sinnlos wäre, so ist die korrekte
"technische" Lösung ganz simpel (wie zum Beispiel auch bei einer Steuerung eines
Kernkraftwerkes) die: Erlaube keinem Kontrollsystem unter keinem Umstand, sich selbst zu
deaktivieren! So einfach ist das, Herr Linden!
Das amüsanteste, aber auch oberflächlichste, Argument für die Unzweckmäßigkeit des Gehirns
folgt nun in der Tabelle: "Hohe Rechenleistung lässt sich nur mithilfe eines sehr großen, stark
vernetzten Gehirns erreichen, das im fast reifen Zustand nicht durch den Geburtskanal passt."
Dieses Argument muss man ebenfalls zweimal lesen. Es wird im Buch auf S. 85 und 86 näher
erläutert. Der entscheidende Satz von S. 85 lautet: "Das wichtigste bei der Geburt ist aus der
Sicht der Gehirnentwicklung ganz klar: Der Kopf des Säuglings muss den Geburtskanal
passieren, und das begrenzt die Größe des Kopfes zum Zeitpunkt der Geburt. Hier wird die
Ineffizienz des Gehirndesigns für die Gebärende schmerzlich deutlich." Im Grunde genommen
ist es peinlich für einen Professor für Neurowissenschaften, so etwas von sich zu geben. Dazu
fällt doch jedem ungeübten Laien spontan ein, dass doch das Problem eher bei der Evolution
des zu kleinen Geburtskanal zu suchen sei als am Gehirn, dem der Organismus doch
grundsätzlich den Vorrang einräumt. Und außerdem würde jeder Laie als nächstes die
Feststellung treffen, dass bekanntlich (und in dem Buch gründlich besprochen) das Gehirn sich
nach der Geburt rasant weiterentwickelt und an Volumen zunimmt und demzufolge von der
Evolution die "abnorme" Erweiterung des Hirn-Volumens auch locker nach der Geburt
eingereiht werden könnte.
Nun zurück zu der Tabelle auf S.281. Als nächstes erwartet den Leser ein weiteres Argument
gegen das Hirn-Design, das aus technischer Sicht und damit aus der Sicht eines potenziellen
Designers absoluter Unfug ist. Linden schreibt: "Der Schaltplan für die 500 Billionen Synapsen
im Gehirn ist zu komplex, um vollständig genetisch festgelegt zu sein." Schreibt er das nur, um
seine Tabelle zu füllen? Das Problem der genetischen Determination der Synapsen wurde im
Buch auf S. 62 bereits besprochen dort konnte der Leser noch folgen und verstehen, dass das
gerade nicht so vorteilhaft wäre, da ja dann das Individuum genetisch völlig vorbestimmt
wäre. Dort kann man noch vernünftige Sätze des Autors lesen: "Die präzise Ausführung und
Verschaltung des Gehirns hängt von Faktoren ab, die nicht von den Genen codiert werden (und
daher als epigenetische Faktoren bezeichnet werden), darunter Umwelteinflüsse." Aus der
Sicht der ID-Wissenschaft sind die Freiheitsgrade bei der Selbstprogrammierung der genetisch
nicht determinierten Synapsen ein sehr wichtiges ID-Signal für Konstruktion. Möchte der Autor
das Signal verschleiern? Der Leser stelle sich die einfache Frage, ob es denn von Vorteil wäre,
wenn wir Menschen uns im Verhalten und in den Wünschen und in den Fähigkeiten einander
völlig gleichen würden.
In der Tabelle auf S.281 folgen einige weitere wirklich unsinnige Aufzählungen, die für ein
"zusammengeschustertes" Gehirn sprechen sollen. Es lohnt nicht so viel Unsinn zu
kommentieren. Fast alle einzelnen Argumente halten überhaupt keiner Prüfung stand und
entbehren daher jeder wissenschaftlicher Relevanz. Der Autor ist sich im Grunde genommen
darüber im Klaren, dass er über etwas geschrieben hat, das er überhaupt nicht versteht, weil
die notwendigen wissenschaftlich erforschten Fakten noch gar nicht verfügbar sind.
Dazu folgende Zitate, die dem Buch entnommen sind: "Es kann kaum überraschen, dass große
Anstrengungen unternommen werden, um die chemischen Signale zu identifizieren, .... Bisher
hat sich dies als weitaus schwieriger erwiesen als zunächst angenommen,.." (S.26)
"Möglicherweise müssen wir Funktionen genauer definieren, um Lokalisation von Funktionen
besser zu verstehen." (S.35) "Das ist eine schwierige und für die Neurobiologie grundlegende
Frage, auf die es noch keine abschließende Antwort gibt." (S.60) "Die molekularen Hinweise,
die die neuronale Zellwanderung lenken, sind noch nicht vollständig verstanden..." (S.75) "Das
gegenwärtige neurobiologische Wissen kann zu dieser Frage wenig beitragen. Wenn wir
beispielsweise eine kritische Periode für das Rechnenlernen voraussagen wollten, ist nicht klar,
wo im Gehirn wir danach suchen sollten und wonach wir suchen sollten, sobald wir den Ort
bestimmt haben."(S. 93) "Wir nehmen daher - meines Erachtens zu Recht - an, dass es auch
beim Menschen Spiegelneurone gibt." (S.124) "Daher geht man gegenwärtig davon aus, dass
es verschieden Arbeitsgedächtnis-Systeme für verschiedene Hirnregionen gibt..." (S.137)
"Obgleich Veränderungen der intrinsischen Erregbarkeit wahrscheinlich zu einigen Aspekten
der Gedächtnisspeicherung beitragen, ist es unwahrscheinlich, dass dies alles ist." (S.150)
"Räumliches Lernen ruft wahrscheinlich Veränderungen in einem sehr kleinen Teil der räumlich
verteilten hippocampalen Synapsen hervor, und wir haben bisher keine Möglichkeit gefunden,
diese Synapsen zu lokalisieren." (S.161) "Die kurze Antwort lautet: Wir wissen es nicht."
(S.163) "... sind wir noch immer sehr weit von einer kompletten 'Vom-Molekül-zum-
Verhalten' -Erklärung des deklarativen Gedächtnisses entfernt." (S.165) "Erstaunlicherweise
haben wir auf diese einfache Frage keine definitive Antwort." (S.215) "Wir kennen die Antwort
nicht, doch es gibt mehrere Hypothesen." (S.235) "... ist die Art und Weise, wie der NSC die
Schlaf-Kontroll-Schaltkreise beeinflusst, noch immer schlecht verstanden." (S.2236) "Der
heilige Gral einer vollständigen biologischen Erklärung für Verhalten ist noch nicht in greifbare
Nähe gerückt..." (S.290)
Diese Zitate entstammen zwar jeweils einem anderen Zusammenhang, doch die Kernaussage
der Zitate ist kontextunabhängig und eindeutig: Der aktuelle Wissensstand erlaubt noch gar
keine Kritik an unserem Gehirn. Wer es dennoch tut, handelt wider besseres Wissen - und wie
im Falle das Autors sogar wider sein eigenes Wissen.