Zufallsprodukt der Evolution - oder nicht?
Es lohnt sich, über Darwins Lehre zu streiten
Von Rolf Spinnler
(Stuttgarter Zeitung vom 17.08.2007 unter der URL-Adresse:
leider von der Redaktion entfernt (warum?))
Steht uns ein neuer Kulturkampf bevor? Seit die hessische Kultusministerin
vorgeschlagen hat, man solle die Schüler im Biologieunterricht nicht nur mit der
Darwin"schen Evolutionstheorie, sondern auch mit der monotheistischen
Schöpfungslehre bekannt machen, sehen nicht wenige den wissenschaftlichen Standard
der deutschen Schulen in Gefahr. Wer empirische Naturwissenschaft und religiöse
Weltbilder auf eine Stufe stelle, verstoße nicht nur gegen die weltanschauliche
Neutralität des staatlichen Schulsystems, sondern beschädige auch den
Wissenschaftsstandort Deutschland. Die Schöpfungslehre, so fordern diese besorgten
Stimmen, habe in einem wissenschaftlichen Schulfach nichts zu suchen, sondern dürfe
allenfalls im Religionsunterricht behandelt werden. Andernfalls drohten uns zermürbende
Auseinandersetzungen wie in den USA, wo sich an vielen Schulen die Elternvertreter
streiten, ob Charles Darwins Theorie oder die Bibel die Richtschnur für den
Biologieunterricht ihrer Kinder abgeben soll.
Doch was heißt hier Wissenschaft? Gehört zu deren Prinzipien nicht die Bereitschaft, das
herrschende Wissen immer neu einer kritischen Revision zu unterwerfen? Warum
fürchten die Anhänger der Evolutionstheorie die Auseinandersetzung mit
konkurrierenden Deutungsmustern der Naturgeschichte so sehr, dass sie die Kritiker des
Darwinismus immer wieder als hinterwäldlerische religiöse Fundamentalisten hinstellen,
die keiner ernst nehmen könne?
Den Gefallen wollen wir ihnen hier nicht tun. Man muss nicht daran glauben, dass die
Welt in sechs Tagen erschaffen wurde, kann aber dennoch gewichtige Einwände gegen
die Evolutionstheorie haben. Es reicht nicht, wenn diese Einwände lediglich im
Religionsunterricht zur Sprache kommen. In diesem Fall bleiben nämlich die
Parallelgesellschaften der Theologen und der Naturwissenschaftler in ihren jeweiligen
Ghettos unter sich, statt miteinander ins Gespräch zu kommen. Man landet dann beim
Nebeneinander von zweierlei Wahrheiten, was sowohl mit der monotheistischen Idee als
auch mit dem Selbstverständnis der modernen Wissenschaft unvereinbar wäre. Denn
beide stehen und fallen mit der Idee der einen Wahrheit.
Was also ist Wissenschaft? Naturwissenschaftler berufen sich heute in der Regel auf jene
Erkenntnistheorie, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts
von den Vertretern des Wiener Neopositivismus entwickelt wurde: von Autoren wie
Ludwig Wittgenstein, Rudolf Carnap, Moritz Schlick und Karl Popper. Popper hat in seiner
"Logik der Forschung" von 1935 den Erkenntnisprozess so beschrieben: Am Beginn der
Forschung steht eine Hypothese, die sich dann empirisch bewähren muss. Unter
Bewährung versteht Popper den Versuch, sie zu widerlegen, zu "falsifizieren", denn - so
lautet seine Pointe - eine Theorie lässt sich zwar widerlegen, aber nie endgültig
bestätigen. Wenn sie verschiedene Falsifikationsversuche erfolgreich überstanden hat,
dann kann sie als "bewährte Hypothese" gelten, die aber stets für weitere
Widerlegungsversuche offen sein muss.
Der Darwinismus, der durch Charles Darwins 1859 publiziertes Buch "Die Entstehung
der Arten durch natürliche Zuchtwahl" begründet wurde, behauptet bekanntlich
Folgendes: Die Vielfalt der heute existierenden Pflanzen- und Tierarten ist im Laufe eines
Jahrmillionen dauernden Prozesses entstanden, bei dem sich durch genetische Mutation
und Selektion - dem Überleben der am besten an ihre Umwelt angepassten Arten - aus
einfachen Lebensformen immer kompliziertere entwickelt haben. Den vorläufigen
Endpunkt dieser Evolution bildet die Tierart "Homo sapiens sapiens": der Mensch. Legt
man an diese Evolutionstheorie die Popper"sche Erkenntnismethode an, so lässt sich ihr
Status klar bestimmen: Sie ist eine in vielen, aber keinesfalls allen Punkten bewährte
Hypothese - nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, all jene Punkte der darwinistischen Lehre
aufzuzählen, bei denen noch Klärungsbedarf besteht. Nur einer sei herausgegriffen: jene
kritische Phase, in der die genetischen Mutationen nicht mehr lediglich zu Varianten
innerhalb einer bestehenden Spezies führen, sondern in einem qualitativen Sprung eine
neue Art entstehen lassen. Dasselbe Problem tut sich auch an den großen Nahtstellen
der Naturgeschichte auf: beim "Urknall" und der Entstehung der Naturgesetze, beim
Übergang von der anorganischen zur lebendigen Natur oder bei der Entstehung des
menschlichen Geistes.
Es geht dabei jeweils um das Hervortreten des radikal Neuen - und genau das können
die Evolutionstheoretiker nicht befriedigend erklären. Sie führen das Neue stets nur auf
das Bekannte zurück, mogeln sich durch Begriffe wie "Emergenz", "Fulguration" (Konrad
Lorenz) oder "Hyperzyklus" (Manfred Eigen) um das Problem herum. Doch das sind
theoretische Konzepte, die um keinen Deut weniger spekulativ sind als die alte Lehre
von der "creatio ex nihilo", der Schöpfung aus dem Nichts.
Damit soll nichts gegen spekulatives Denken gesagt sein. Das Paradox besteht hier nur
darin, dass ausgerechnet diejenigen, die stets das Ideal der harten, empirischen
Wissenschaft gegen jede Form von spekulativer Metaphysik ausspielen, selbst zu
theoretischen Spekulationen Zuflucht nehmen. Der Philosoph Robert Spaemann merkt
hierzu süffisant an: "Das Evolutionsprogramm als antimetaphysisch zu kennzeichnen ist
Koketterie: es ist extrem metaphysisch." Damit brechen aber die Kampfparolen der
Darwinisten in sich zusammen. Hier steht nicht mehr Wissenschaft gegen Metaphysik,
sondern Spekulation gegen Spekulation. Bestsellerautoren wie Jacques Monod ("Zufall
und Notwendigkeit", 1971), Richard Dawkins ("Das egoistische Gen", 1978) oder Daniel
Dennett ("Darwins gefährliches Erbe", 1997) verwandeln die Evolutionstheorie von einer
wissenschaftlichen Hypothese mit begrenzter Reichweite in einen Universalschlüssel, der
alle Welträtsel aufzulösen verspricht: die Entstehung des Universums und des Lebens,
des menschlichen Geistes, der Kultur, der Moral und der Religion. Bei ihnen wird unter
dem Deckmantel der Wissenschaft eine Weltanschauung propagiert. Genau diesen
Etikettenschwindel muss man aufdecken und zurückweisen.
Wenn Daniel Dennett die These vertritt: "Gedanken entstehen aus Molekülen, Proteinen,
Enzymen", dann könnte das ein heilsames Korrektiv gegen einen falschen Idealismus,
eine Philosophie des reinen Geistes sein. Ja, es stimmt, die Menschen sind auch
Naturwesen. Aber sie sind Naturwesen, die so "aus den Fugen" der natürlichen Ordnung
geraten sind, dass sie - anders als die Tiere - so etwas Exzentrisches wie den Geist
benötigen, um überleben zu können. Diesen Geist gäbe es zwar nicht ohne biologische
Grundlagen, aber er ist zugleich mehr als die Summe seiner Entstehungsbedingungen.
Und genau dieses "Mehr", diesen qualitativen Sprung, durch den jeder neue Gedanke
seine biochemischen Voraussetzungen transzendiert, kann die Evolutionstheorie nicht
erklären. Die Schöpfungstheologie dagegen schon. Sie führt dieses "Mehr" auf einen Akt
grundloser Freiheit zurück, zu dem wir fähig sind, weil wir uns selbst einem nicht mehr
ableitbaren göttlichen Schöpfungsakt verdanken.
Das führt uns schließlich zur Frage, welche Folgen es für das menschliche Selbst- und
Weltverhältnis hat, wenn wir uns das Weltbild von Dennett, Dawkins und Co. zu eigen
machen. Wenn ich glaube, dass mein Leben aus einem blinden Prozess genetischer
Variation und Selektion hervorgegangen ist, also keinen "Sinn" hat, dann verpflichtet es
mich auch zu nichts. Wenn ich aber der Überzeugung bin, dass du und ich und wir alle
so, wie wir sind, gewollt wurden, dann müssen und können wir die uns geschenkte
Existenz als Aufgabe wahrnehmen und gestalten. Es macht also einen Unterschied, ob
wir uns als Zufallsprodukt der Evolution oder als Ziel eines Schöpfungsakts verstehen.
Eben deshalb muss weiter über den Darwinismus gestritten werden.
______________________________________________________________________