Inwieweit gelten Poppers Falsifikationskriterien auch für die
Evolutionstheorie?
Unter dieser Überschrift schreibt Dr.Wolf-Ekkehard Lönnig (2002) folgenden Artikel, der  
auszugsweise hier wiedergegeben wird. Der komplette Artikel kann auf der Seite von Dr.  
Lönnig gelesen werden.
 
 
Unterschiedliche Antworten auf naturwissenschaftliche Probleme, die auch existenzielle  
Fragen berühren, können gravierende Unterschiede für unser Weltbild zur Folge haben.
Die Antwort auf die Frage, ob die Entstehung und Entfaltung des Lebens rein  
naturgesetzlicherklärt werden kann oder ob Intelligent Design involviert ist, weist einen  
solchen wissenschaftlich-weltanschaulichen Doppelcharakter auf. Und es erscheint  
menschlich nur allzu verständlich, wenn sich viele von uns auf diese Problematik möglichst  
absolut sichere Antworten wünschen.  

Derzeit wird von vielen Biologen die (erweiterte Synthetische) Evolutionstheorie als  
reinnaturgesetzliche Erklärung unter prinzipiellem Ausschluss von Intelligent Design als  
unanfechtbar "letzte Antwort" betrachtet. So wird von führenden Evolutionsbiologen u. a.  
behauptet, die heutige Theorie erkläre "jede bekannte Lebensform" (Huxley), keine andere  
Lehre habe sich "so restlos als wahr erwiesen wie die Abstammungslehre Ch. Darwins"  
(Lorenz), "sie ist eine Tatsache und wir brauchen das nicht länger zu beweisen" (Mayr), "die  
Evolution gab es in der Tat, und der Mensch ist ein Teil davon" (Martin), "Evolution is true -  
and the truth can only make us free" (Gould), usw. usf.* Seit Haeckel (1866) beherrscht diese  
Geisteshaltung nicht nur weite Teile der Biologie, sondern auch fast sämtliche ‘übrigen’  
Wissenschaftszweige bis hin zur Theologie.
 
Solche Absolutheitsansprüche stehen jedoch im starken Kontrast zu den  
wissenschaftstheoretischen Aussagen und Erkenntnissen der in den Naturwissenschaften  
weitgehend anerkannten Schule von Sir Karl R. Popper: Danach sind auf wissenschaftlicher  
Ebene zwar sichere Falsifikationen möglich, nicht aber unumstößliche Verifikationen einer  
"Vermutung" oder Hypothese mit anschließendem Anspruch auf vollkommene Richtigkeit.  
(Insbesondere lehrt uns dazu die Wissenschaftsgeschichte, dass von Theoretikern erhobene  
und ehrlich geglaubte Absolutheitsansprüche sich schon wiederholt als unrichtig  
herausgestellt haben.)
 
Es erheben sich daher folgende Fragen:
Dazu habe ich aus den Arbeiten Karl Poppers zehn für unsere Fragestellung unmittelbar  
relevante Bemerkungen zitiert und anschließend auf die Evolutionstheorie angewandt:



1. Zehn grundsätzliche Bemerkungen von Sir Karl Popper zur Wissenschafts-
theorie

(Zur besseren Übersichtlichkeit von mir numeriert; kursiv von Popper):
2. Anwendung von Poppers Aussagen auf die Evolutionstheorie
 
Wendet man die oben nach Karl R. Popper zitierten Grundsätze der Wissenschaftstheorie  
zunächst einmal konkret auf die Evolutionstheorie an, so lassen sich folgende  
Schlussfolgerungen für diese ziehen:
(1) Auch die Aussagen der Evolutionstheorie sind nicht als "endgültig verifiziert" zu betrachten.
(2) Auch die Evolutionstheorie ist eine Hypothese, die umgestoßen werden kann.
(3) Wir können uns also nie absolute Sicherheit verschaffen, daß die Evolutionstheorie nicht hinfällig ist.
(4) Auch die Evolutionstheorie ist nicht sakrosankt.
(5) Die Evolutionstheorie gewährt "nicht die Sicherheit..., die man von [ihr] aufgrund magischer Vorstellungen von der Wissenschaft und vom Wissenschaftler erwarten würde."
(6) Auch Evolutionstheoretiker sollten die Frage beantworten: "Unter welchen Bedingungen würde ich zugeben, daß meine Theorie falsch ist?"
Nach (7) und (8) lässt sich auch die Evolutionstheorie gegen Kritik "immunisieren". Aber "[w]enn wir derartige Immunisierungen zulassen, dann wird jede Theorie unfalsifizierbar." Die Evolutionstheorie gibt die empirische Wissenschaft auf, "wenn man die Falsifizierung um jeden Preis vermeidet."
(9) Die Falsifikation der Evolutionstheorie durch die Widerlegung "einer oder mehrerer ihrer deduktiven Konsequenzen [wäre] offenbar eine deduktive Schlußweise (modus tollens)". Poppers Auffassung impliziert, dass auch die Aussagen der Evolutionstheorie "für immer (es sei denn, daß sie falsifiziert werden) Hypothesen oder Vermutungen bleiben müssen."
(10) Wenn es uns gelingt, die Evolutionstheorie zu falsifizieren, "machen wir eine neue wichtige Entdeckung". Falsifizierungen "lehren uns das Unerwartete" (und dazu gehört auch die Möglichkeit von Intelligent Design als Ursache des Ursprungs der Lebensformen) und, "daß unsere Theorien, obwohl sie von uns selbst aufgestellt wurden, obwohl sie unsere eigene Erfindung sind, dennoch echte Aussagen über die Welt sind; denn sie können mit etwas zusammenstoßen, sie können an etwas scheitern, das wir nicht selbst erfunden haben."

(1) "Das Spiel der Wissenschaft hat grundsätzlich kein Ende: wer eines Tages beschließt, die wissenschaftlichen Sätze nicht weiter zu überprüfen, sondern sie etwa als endgültig verifiziert zu betrachten, der tritt aus dem Spiel aus."
(2) "Ich erkannte, daß die Suche nach Rechtfertigung aufgegeben werden muß, nach Rechtfertigung des Wahrheitsanspruchs einer Theorie. Alle Theorien sind Hypothesen; alle könnenumgestoßen werden."
(3) "Wir können uns nie absolute Sicherheit verschaffen, daß unsere Theorie nicht hinfällig ist."
(4) "Keine bestimmte Theorie kann als absolut sicher betrachtet werden; jede, auch die am besten bewährte, kann unter Umständen wieder problematisch werden. Keine wissenschaftliche Theorie ist sakrosankt."
(5) "Die erreichten Sätze und Theorien gewähren nicht die Sicherheit (oder auch nur einen hohen Grad von "Wahrscheinlichkeit" im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung), die man von ihnen aufgrund magischer Vorstellungen von der Wissenschaft und vom Wissenschaftler erwarten würde."
(6) "Wenn jemand eine wissenschaftliche Theorie aufstellt, dann soll er, wie Einstein, die Frage beantworten: "Unter welchen Bedingungen würde ich zugeben, daß meine Theorie falsch ist?"
(7) "Als ich jedoch...versuchsweise die Idee der Falsifizierbarkeit (oder Prüfbarkeit oder Widerlegbarkeit) einer Theorie als Abgrenzungskriterium einführte, entdeckte ich sehr bald, daß jede Theorie sich gegen Kritik "immunisieren" läßt... Wenn wir derartige Immunisierungen zulassen, dann wird jede Theorie unfalsifizierbar."
(8) "Wir können also sagen, daß man empirische Wissenschaft in meinem Sinne aufgibt, wenn man die Falsifizierung um jeden Preis vermeidet."
(9) "Die Falsifikation oder Widerlegung von Theorien durch die Falsifikation oder Widerlegung einer oder mehrerer ihrer deduktiven Konsequenzen war offenbar eine deduktive Schlußweise(modus tollens). Meine Auffassung implizierte, daß wissenschaftliche Theorien für immer (es sei denn, daß sie falsifiziert werden) Hypothesen oder Vermutungen bleiben müssen."
(10) "Und jedes Mal, wenn es uns gelingt, eine Theorie dieser Art zu falsifizieren, machen wir eine neue wichtige Entdeckung. Denn diese Falsifizierungen sind höchst wichtig. Sie lehren uns das Unerwartete; und sie lehren uns wieder, daß unsere Theorien, obwohl sie von uns selbst aufgestellt wurden, obwohl sie unsere eigene Erfindung sind, dennoch echte Aussagen über die Welt sind; denn sie können mit etwas zusammenstoßen, sie können an etwas scheitern, das wir nicht selbst erfunden haben."

(a) Inwieweit gelten Poppers Falsifikationskriterien auch für die Evolutionstheorie? (Zu den Falsifikationskriterien vgl. weiter die ausführliche Diskussion in den Fußnoten.**)
(b) Sollte der Deszendenztheorie ein Sonderstatus in den Naturwissenschaften zukommen?
(c) Oder könnte es sich bei den soeben zitierten und zahlreichen ähnlichen Behauptungen um den Ausdruck eines über die naturwissenschaftlichen Möglichkeiten und Grenzen hinausgehenden ‘Glaubensbekenntnisses’ handeln?
 
3. Hat sich die Evolutionstheorie tatsächlich "restlos als wahr erwiesen"?
 
Tatsache ist, dass die Synthetische (und andere) Evolutionstheorie(n) - statt "jede bekannte  
Lebensform" zu erklären - auf die größten Schwierigkeiten bei der Erklärung von  
Synorganisationen stoßen (vgl. z. B. die Fragen zur Entstehung des Fangmechanismus von  
Utricularia und die Diskussion dazu sowie Coryanthes und Catasetum und die Giraffe). Da sich  
die Theorie also keineswegs "restlos als wahr erwiesen" hat (vgl. weiter das Gesetz der  
rekurrenten Variation), und da die Theorie keineswegs "eine Tatsache" ist, die man "nicht  
länger zu beweisen" braucht (vgl. z. B. Artbegriff und Auge ), handelt es sich bei  
Behauptungen wie "die Evolution gab es in der Tat, und der Mensch ist ein Teil davon" oder  
"Evolution is true - and the truth can only make us free" usw. um ‘Glaubensbekenntnisse’, die  
überdies in weiten Bereichen ihrer Aussagen im Widerspruch zu den naturwissenschaftlichen  
Tatsachen stehen. Der Evolutionstheorie kann - as "a theory in crisis" -  
wissenschaftstheoretisch kein Sonderstatus zuerkannt werden, etwa indem man ihre  
Grundaussagen in den Rang von Tatsachen erhebt. Poppers Falsifikationskriterien gelten auch  
voll für die Evolutionstheorie.
 

 
Schlussbemerkung
Popper selbst hat seine erkenntnistheoretischen Sätze nur zum Teil auf die Evolutionsfrage  
angewandt (in Ermangelung einer ihm bekannten naturwissenschaftlichen Alternative setzte er  
die Idee der Gesamtevolution als richtig voraus). Er hat jedoch einige Unzulänglichkeiten des  
Darwinismus sehr wohl erkannt. Ein paar Punkte zu diesen Fragen habe ich unter dem  
Thema"Popper’s Critique and Recantation" sowie "Popper’s Case of the Peppered Moth: Still  
more Metaphysics than Science" in meinem Beitrag Natural Selection behandelt (siehe auch die  
Fußnoten unten)***. Dazu wäre jedoch noch sehr viel mehr zu sagen. Ich habe in dem  
vorliegenden Beitrag nur einige Hauptpunkte diskutiert.
 


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