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Die Praxis des ontologischen Naturalismus
 
Die Erd-Scheiben-Lehre des Mittelalters ist eine Erfindung der naturalistischen  
Aufklärer, um sich selbst aufzuwerten


Es gehört zum Hauptanliegen des modernen Naturalismus, aufklärend wirksam zu sein.  
Darunter muss man in erster Linie verstehen, dass der Naturalismus den Menschen eine  
neues, besseres Weltbild vermitteln möchte und die Menschen von alten, religiösen  
Vorstellungen befreien möchte. Im Rückblick verweisen die Naturalisten daher gern  
darauf, dass sie es gewesen seien, die dafür gesorgt hatten, dass ins besondere die  
mittelalterlichen irrigen Ansichten für immer verschwunden sind. Diese Ansicht wird  
heute kaum angezweifelt, da die Aufklärer, wie sie sich selbst nannten, vor allem  
Naturalisten waren. Doch die Wahrheit ist auch in diesem Fall nicht nur ein wenig  
anders.
 
Am Beispiel der weit verbreiteten Meinung, im Mittelalter hätten die Menschen noch  
geglaubt, die Erde sei eine Scheibe, soll gezeigt werden, dass die wirkliche Aufklärung  
bereits viel früher stattgefunden hatte. Es folgen Zitate aus dem Aufsatz "Ein Mythos des  
„Wissenschaftszeitalters“: Das Weltbild von der Erdscheibe im Mittelalter" von Natale  
Guido Cincinnati.

"Die Auffassung, dass man sich im Mittelalter die Erde als Scheibe dachte, ist nach wie  
vor weit verbreitet und kann als gängige Vorstellung gelten (Abb. 1). Sie findet sich in  
populärwissenschaftlichen Sachbüchern (z.B. Brash 1993, 131) ebenso wie in  
wissenschaftlichen Lehrbüchern (Herrmann 1973, 15) und fügt sich nahtlos in das Bild  
eines religiös bestimmten Mittelalters, das von einem Christentum dominiert wurde,  
welches die exakten Wissenschaften ablehnte (vgl. Keppler 1990, 15).
 
Diese weit verbreitete Ansicht entspricht jedoch keineswegs den historischen Tatsachen.  
Bereits Aristoteles (384-322 v.Chr.) war von der Kugelgestalt der Erde überzeugt und  
begründete dies unter anderem mit der runden Begrenzungslinie des Erdschattens bei  
einer Mondfinsternis. Und Eratosthenes von Kyrene (284-202 oder 194 v.Chr.) führte  
sogar eine Berechnung des Erdumfangs durch. Er kam auf ein Ergebnis von 250.000  
Stadien (= 37.125 km), welches dem tatsächlichen äquatorialen Erdumfang von  
40.075,017 km schon erstaunlich nahe kam. Diese und weitere Ergebnisse der antiken  
Mathematiker und Astronomen standen den Gelehrten des Mittelalters zahlreich zur  
Verfügung (Hertel & Hertel 1983, 14-15).
 
Simek (1992, 38-52) sieht für das Mittelalter drei wesentliche Quellengruppen, welche  
die Auffassung von einer kugelförmigen Erde deutlich dokumentieren: Die auf den  
frühmittelalterlich gelehrten Werken beruhenden Enzyklopädien und Kompendien der  
kirchlichen Tradition, die astronomischen Handbücher des Hochmittelalters und die  
literarischen und enzyklopädischen Werke des Hoch- und Spätmittelalters, welche  
bereits praktische Schlüsse aus der Kugelform zogen. Alle drei Quellengruppen lassen  
keinen Zweifel daran, dass eine Scheibenform der Erde nie eine weit verbreitete oder  
gar anerkannte Lehrmeinung der weltlichen oder kirchlichen Gelehrtenwelt war.
 
Vielmehr galten bis zum Ende des Mittelalters die platonisch-aristotelische  
Sphärentheorie sowie Berechnungen des Astronomen und ersten wissenschaftlichen  
Kartographen Claudius Ptolemäus (ca.100-ca.160), nach dessen Ergebnissen die Erde  
eine Kugel mit einem Umfang von 180.000 Stadien war (Hertel & Hertel 1983, 15-16).  
Um 400 n. Chr. konstatierte auch Augustinus (354-430) die Kugelgestalt der Erde, die  
als moles globosa im Zentrum des Weltalls stehe. Und spätestens seit der karolingischen  
Renaissance des 8. Jahrhunderts zählte das Wissen um die Kugelgestalt der Erde zum  
allgemeinen Gut der Gelehrten (Simek 1992, 38), wie es auch die gesamte  
mittelalterliche Scholastik eindeutig zeigt.
 
Es stellt sich daher die Frage, wie es überhaupt zur Entstehung des „wissenschaftlichen  
Mythos“ von der flachen Erdscheibe kommen konnte. Simek (1992) macht im  
wesentlichen drei Gründe dafür verantwortlich. So gab es tatsächlich einige wenige  
Kirchenväter der Spätantike, welche eine scheibenförmige Gestalt der Erde vertraten.  
Neben dem Kirchenlehrer Firmianus Lactantius (*um 250, †nach 317) und dem Bischof  
Severianus von Gabala (†um 408) ist hier vor allem der alexandrinische Mönch Kosmas  
(genannt Indikopleustes; 6. Jh.) zu nennen, der eine scheiben- oder trapezförmige Erde  
mit einem kastenartigen Himmel dem antiken Weltbild gegenüberstellte. Doch war  
Kosmas’ Lehre weder typisch für das Mittelalter noch beeinflusste sie dieses nachhaltig.  
Seine in Griechisch abgefasste Topographia Christiana erfuhr keine Übersetzung ins  
Lateinische und wurde erst 1706 in Paris gedruckt, so dass Kosmas vor dem 17./18.  
Jahrhundert kaum Beachtung fand (Simek 1992, 12, 52-53)."

Historiker konnten stattdessen aufzeigen, dass die Verbindung von mittelalterlicher Welt  
und Erdscheibenlehre eine Erfindung der Aufklärung und des post-aufklärerischen  
Wissenschaftszeitalters im 19. Jahrhundert war, um das mittelalterliche Denken  
gegenüber der Moderne als besonders rückständig darzustellen.
 
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